Heute kam mal wieder so eine Anfrage einer mir unbekannten Agentur aus Frankreich nach Zusammenarbeit bei mir an und natürlich wird eine Testübersetzung in der Länge von rund 300 Wörtern verlangt. Mal abgesehen davon, dass ich überzeugt bin, dass mein Diplom und die fast 15 Jahre Berufserfahrung aussagekräftig genug sein sollten, stellt sich mir immer wieder die Frage: Wer beurteilt diese Probeübersetzungen eigentlich?
Möglichkeit Nr. 1: Die Agentur beschäftigt für jede Zielsprache einen Muttersprachler, der die Qualität der Probetexte beurteilt. Kann ich mir nicht vorstellen. Könnte dort unter Umständen ziemlich voll werden. 🙂
Möglichkeit Nr. 2: So wie von Übersetzern eine Arbeitsprobe gefordert wird, ist es auch bei Korrekturlesern und diese lesen als Probe kostenlos die Übersetzungen Korrektur. Da ich durchaus auch als Korrekturleserin für Agenturen arbeite und noch nie eine Probekorrektur durchführen sollte, halte ich auch diese Möglichkeit für eher unwahrscheinlich.
Möglichkeit Nr. 3: Ein erfahrener Korrekturleser aus dem Pool der Agentur beurteilt die Probetexte und wird selbstverständlich dafür bezahlt. Bei dieser Möglichkeit frage ich mich, wieso dann der Übersetzer nicht bezahlt werden kann? Also auch eher nicht so.
Möglichkeit Nr. 4: Die Agentur jagt den Text durch Google Translate, vergleicht die Ergebnisse miteinander, und wenn die Testübersetzung zu sehr von der Computerübersetzung abweicht, ist sie offensichtlich falsch. Ja, ich hoffe auch, dass es diese Möglichkeit nicht ist.
Möglichkeit Nr. 5: Es existiert eine korrekte Musterübersetzung für den Probetext, mit dem die Testübersetzung verglichen wird. Weicht sie vom Muster ab, wird der Übersetzer abgelehnt.
Da mir die Alternativen ausgehen, halte ich die letzte Möglichkeit für die wahrscheinlichste. Wenn auch für wenig aussagekräftig, denn nur, weil eine Probeübersetzung anders ist als die Musterübersetzung, heißt das nicht, dass sie schlechter oder gar falsch ist. Wenn Sie zwei erfahrene Werbetexter bitten, einen Stuhl zu beschreiben, werden Sie zwei völlig unterschiedliche Texte bekommen – die jedoch beide gleich korrekt und aussagekräftig sein können.
Und deshalb, liebe Agenturen aus dem Ausland, fertige ich keine kostenlosen Probeübersetzungen an. Sie können sie doch eh nicht beurteilen! (Und wegen der mangelnden Deutschkenntnisse auch diesen Text nicht lesen. Verdammt.)
Daniela meint
Ich habe diese Anfrage heute auch bekommen und reagiere aus genau deinen genannten Gründen gar nicht darauf. Eine ausländische Agentur kann meiner Meinung nach eine Probeübersetzung nicht beurteilen. Und schon gar nicht die Qualität, die aus über 10 Jahren Berufserfahrung spricht. Ich hatte mal eine Anfrage von einer Agentur, die am Aufbau eines Übersetzerpools war und die wollten keine Testübersetzung, weil – so der O-Ton – sie es sich nicht anmaßen, einen erfahrenen Übersetzer zu beurteilen. Sie baten vielmehr um bereits übersetzte Textbeispiele (anonymisiert), um sich generell ein Bild zu machen. Fand ich die bessere Lösung, doch müssen wir uns nicht mehr „beweisen“. Ausbildung und Erfahrung sind Beweis und Nachweis genug und wenn die sich um uns bewerben, müssen wir nicht kostenlos in Vorleistung gehen…
Nathalie meint
Genau diese Anfrage hatte ich heute auch – ich befürchte leider, dass diese Probeübersetzungen „richtige“ Aufträge für deren Endkunden sind, und diese Agentur so schrittweise an eine komplett kostenlose Übersetzung kommt – weil eben viele Übersetzer so scharf auf einen potenziellen neuen Kunden sind, dass sie gerne eine unbezahlte Probeübersetzung durchführen. Probeübersetzungen mache ich nur, wenn ich dafür mein Minimalhonorar bekomme – danke für den Artikel!
Dr. Bernd Walter meint
Mit „Probeübersetzungen“ habe ich auch schon Erfahrungen gemacht. In einem Fall bekam ich meine Probe in Begleitung der korrekten Fassung als unbrauchbar zurück. Leider enthielt die korrekte Fassung so viele fachliche Fehlbezüge, dass ich laut lachen musste – es ging um Diabetes und ich bin in erster Ausbildung Biochemiker. Eine andere Probeübersetzung erhielt ich mit der Bemerkung zurück: „Haben zu schlechtes deutsches Stil, können nicht nehmen.“ Für einen Verlag habe ich mal das erste Kapitel eines Lehrbuches zur Molekülorbitaltheorie als Probe übersetzt und nie wieder etwas von dem Verlag gehört, auch nicht auf Nachfrage. Man hatte mir das ganze Buch versprochen. Vielleicht war ich doch zu schlecht. Oder andere Kollegen haben die restlichen Kapitel zur Probe erhalten.
Anke meint
So eine ähnliche Anfrage habe ich heute auch erhalten. Die Agentur fand mein „Profil sehr interessant“ und schlug mir dann eine Probeübersetzung in einem Fachgebiet vor, das ich noch nie bedient habe (und das auch in keinem meiner Online-Profile auftaucht). Hmmm… So war es gar nicht nötig, die Frage nach der Probeübersetzung zu beantworten 🙂
Lars meint
Möglichkeit Nr. 6: Die Agentur beschäftigt (un)bezahlte Praktikanten, die Probeübersetzungen korrekturlesen. Die haben oft viel Zeit, sich mit der Materie auseinanderzusetzen, obwohl sie natürlich einem guten, erfahrenen Übersetzer nicht das Wasser reichen können. Hauptsache es klingt deutsch, oder nach welcher Sprache auch immer. Und am besten jeweils einen Praktikanten für eine der fünf großen europäischen Sprachen 😉
Estelle meint
Leider bekomme ich auch immer wieder solche Anfragen. Ich kann sie nicht wirklich einordnen. Einerseits denke ich doch immer, dass es sich dabei auch einmal um ein seriöses Angebot zur Zusammenarbeit handeln könnte und male mir aus, wie ich für den Kunden aussehen muss, wenn ich ablehne? Denn es scheint halt doch ein fester Bestandteil des Übersetzer-Headhuntings zu sein.
Andererseits stellt sich mir die Frage, was treibt eine Agentur dazu, eine Probeübersetzung als Voraussetzung zur seriösen Zusammenarbeit zu nehmen? Gibt es nicht andere Mittel und Wege den passenden Übersetzer zu finden?
Mir haben Probeübersetzungen ehrlich gesagt 1 unter 10 Kunden gebracht. Die 9, die jetzt nicht Kunden geworden sind, haben wie im Tenor die Meinung geäussert, dass die gelieferte Übersetzung nicht dem verlangten Preis entspräche und somit von einer weiteren Zusammenarbeit abgesehen werde. Das hat natürlich stark nach Preisdumping gerochen, und dann fragt man sich schon, wozu der Aufwand? Oder hat sich mein Unterbewusstsein so stark mit dem Umstand befasst, dass ich gerade kostenlos ackere, wo doch zahlende Kunden anstehen und warten müssen, bis ich wieder Kapazität für sie frei habe und daher nicht so sorgfältig arbeite wie sonst? Da, wo ich eine Korrekturlesung meiner Probeübersetzung bekommen habe, wusste ich meistens nicht, ob ich lachen oder heulen soll. Teils wurden gerade mal Synonyme ausgetauscht oder Textstellen gelöscht und dasselbe wieder hinein getippt. Auf den ersten Blick sieht auch sowas natürlich nach etlichen relevanten Korrekturen aus.
Ich denke schlussendlich ist die effektivste Basis für eine langfristige Zusammenarbeit immer noch die Vergabe eines Kleinauftrages, der beiden Parteien zeigt, ob gut übersetzt und dafür rechtzeitig gezahlt wird.
Meine Strategie nun bei solchen Anfragen ist, dass ich bestimme, ob a) ich mich überhaupt darauf einlasse (sprich: handelt es sich um einen „Kunden“, den ich haben will), b), welcher Umfang der Text haben darf und c) wann ich liefere (da ich ja auch noch bezahlte Arbeit erledigen muss, um meine Brötchen zu verdienen).
Somit schliesse ich von vorneweg gleich aus, dass der Kunde meine Übersetzung weiter verkauft und mir nichts dafür berappt.