Übersetzen, so die vorherrschende Meinung, kann ja jeder. Sogar eine KI. Man muss ja nur das in einer anderen Sprache schreiben, was da steht! Und die eigene Muttersprache kann ja wohl jeder, was ist also so schwierig daran? Gerade Romane sind doch easy, dafür braucht man ja noch nicht einmal Fachkenntnisse.
Und so beginne ich eine lang geplante Reihe über das Übersetzen von Literatur und was dabei zu beachten ist.
Als ich mich vor über dreißig (!) Jahren für mein Studium der Angewandten Sprach- und Kulturwissenschaft (wie der Fachbereich damals noch hieß) in Germersheim immatrikulierte, stand auf dem Bewerbungsbogen, dass Kandidaten, die eine Schulnote von 4 oder schlechter im Fach Deutsch haben, dringend von dem Studienzweig abgeraten wird. Was ich damals völlig bescheuert fand: Ich bin Deutsche, in Deutschland aufgewachsen, habe in Deutschland Abitur gemacht, ich kann doch Deutsch! Und was sagt eine Schulnote im Fach Deutsch schon über meine Deutschkenntnisse aus? Da haben wir doch nur langweilige Charakterisierungen, Interpretationen und Erörterungen geschrieben, die kein Mensch braucht!
Little did I know.
Vorneweg: Bei der Deutschnote auf dem Abiturzeugnis geht es nicht um Rechtschreibung. Ja, die sollte man beherrschen, nein, die meisten tun das nicht, aber sofern man nicht als Korrekturleser arbeitet, ist das bis zu einem gewissen Punkt gar nicht so dramatisch.
Es geht um das Textverständnis. Dieses wird beim Interpretieren, Charakterisieren und Erörtern gelernt. Und das ist beim Literaturübersetzen absolut unverzichtbar.
Fangen wir im ersten Teil dieser Serie mit der Charakterisierung von Personen an:
In einem Roman gibt es immer mehrere Protagonisten. Oftmals sind dies höchst unterschiedliche Charaktere, die sich auch unterschiedlich ausdrücken. Das ist wie im wahren Leben! Und damit man beim Übersetzen die richtige Ausdrucksweise der einzelnen Personen trifft, muss man diese charakterisieren. Und ich meine nicht, dass man eine Abhandlung zu jeder einzelnen Figur schreiben soll. Aber man muss ihren Charakter im Original erkennen und ihnen eben diesen Charakter in der Übersetzung verleihen.
Zum Beispiel:
Eine bei Trivialromanen recht häufige Konstellation: Ein reicher und beruflich erfolgreicher Mann in seinen Dreißigern, gerne Unternehmer (Anwalt, Immobilien, IT, you name it), verliebt sich unsterblich in eine junge Frau Anfang zwanzig, die gerne aus einer (US-)Kleinstadt kommt und deren Mutter meist an (Brust-)Krebs verstorben ist, während ihr Vater schon lange keine Rolle mehr in ihrem Leben spielt. Natürlich war sie nie auf dem College, denn dafür war nie Geld da. (Und natürlich hat sie ihrer Mutter auf dem Sterbebett versprochen, jungfräulich in die Ehe zu gehen, während der Mann alles poppt, was bei drei nicht auf den Bäumen ist, aber das nur nebenbei.)
Der Mann wird meist als intelligent, gefühlskalt, steif und distanziert charakterisiert. Aber er ist Milliardär, beruflich tierisch erfolgreich – und das wird man, zumindest in den für diese Bücher üblichen Berufen, nicht ohne eine gehörige Portion Eloquenz. Dieser Mann muss sich sehr korrekt und sachlich ausdrücken. Er würde schlicht keine Sachen wie „Kannste knicken“ oder „Ich stehe nicht so auf Fühlifühli“ sagen. Er sagt eher Sachen wie „Mit dieser Vorgehensweise bin ich nicht einverstanden“ oder „Emotionen sind im Allgemeinen überbewertet.“ (Hören Sie beim Lesen, wie steif der Kerl ist? Sehen Sie ihn vor sich in seinem Designeranzug? Genau so muss es sein.)
Unsere Frau hingegen kommt aus einfachen Verhältnissen – und sie ist jung. Sie drückt sich deutlich umgangssprachlicher aus als der Mann. Ihre Ausdrucksweise ist locker, sympathisch, umgangssprachlich, ein wenig einfach, aber durchaus grammatikalisch korrekt. Immerhin ist sie weder doof noch ungebildet! Bei ihr würde „Kannste knicken“ passen. Die Sache mit dem Fühlifühli nicht. Wobei mir kein Charakter einfällt, bei dem dieses Kunstwort passen würde.
Nun nehmen wir an, die zwei gehen abends in eine Kneipe und eine betrunkene Gästin spricht sie an. Würde diese Gästin „Bitte entschuldigen Sie, aber was machen Sie hier?“ sagen? Vermutlich nicht. Eher etwas wie „Ey, was macht ihr hier?“ Und das würde sie auch eher nicht sagen, sondern lallen. Sonst fragt man sich als Leserin schon, was diese Professorin nüchtern in einer solchen Absteige macht!
Am nächsten Tag lernt unsere Protagonistin einen jungen Flüchtling kennen, der seit einem Jahr in Deutschland lebt. Niemand, ja wirklich niemand spricht nach einem Jahr Deutschland perfektes Deutsch. Weil es komplett nervt, einen längeren Text im gebrochenen Deutsch zu lesen, und der Flüchtling im Buch ein Sympathieträger ist, redet er dennoch grammatikalisch korrekt – damit es zu seinem Charakter passt, bedient er sich jedoch einer recht einfachen Ausdrucksweise. Es würde schlicht nicht passen, wenn er sich gewählt ausdrücken und einen großen Wortschatz vorweisen würde. Er würde beispielsweise nicht sagen: „Ich ging damals noch zur Schule und habe gute Noten erzielt“, sondern „Damals war ich in der Schule und hatte gute Noten.“ Er redet jedoch eher schulsprachlich als umgangssprachlich, weshalb ihm ein „Kannste knicken“ nicht über die Lippen kommen würde. Und „Fühlifühli“ schon gar nicht.
Dummerweise wird unsere Protagonistin dann von einem russischen Schläger entführt. Dieser ist bullig, glatzköpfig und ein wenig schlicht. Er hat nie einen Deutschkurs besucht, und solche Kleinigkeiten wie korrekte Sprache interessieren ihn gar nicht. Lieber haut er drauf. Also redet er gebrochenes Deutsch. Auch wenn das im Englischen nicht unbedingt so rüberkommt! „I like your car“ würde man in diesem Fall nicht mit „Mir gefällt dein Auto“ übersetzen, sondern eher mit „Schöne Auto“. Beim Lesen muss man quasi den russischen Akzent im Ohr haben!
Gerettet wird unsere Protagonistin von einem wirklich sehr schlichten Bauarbeiter, der als strunzdumm charakterisiert wird. Vermutlich kommentiert er auch fleißig bei Facebook. Dieser niedrige Bildungsstand muss sich in seiner Ausdrucksweise widerspiegeln. Dennoch muss der Text jedoch lesbar bleiben! „Ich hab‘ dich nich‘ g’sehen“ spiegelt zwar durchaus eine weniger gewählte Ausdrucksweise wider, ist mit den vielen Apostrophen aber spätestens nach dem zweiten Satz echt anstrengend zu lesen. Gerne setze ich bei einem solchen Charakter inflationär das (falsche) Plusquamperfekt ein: „Ich war in die Schule gegangen und hatte Bescheid gesagt gehabt.“
Wie kriege ich jetzt noch eine Jugendliche in der Handlung unter? Egal, irgendwo taucht eine supercoole Sechzehnjährige auf. Mit Piercings und gefärbten Haaren. Die würde bestimmt „Kannste knicken“ sagen. Und gerne auch Sachen wie „Chill mal dein Leben“, „nices Auto“ oder so. Nicht übertrieben, das wäre cringe, aber eine Jugendliche muss reden wie eine Jugendliche! Niemals wäre sie hungrig, sondern sie hätte Hunger oder schöbe Kohldampf.
Diese unterschiedlichen Ausdrucksweisen der unterschiedlichen Charaktere sind wichtig, damit der Leser ein Bild vor Augen bekommt und sich in die Figuren hineinversetzen kann. Und natürlich muss sie auch konsequent durchgezogen werden! Man muss bei einem Dialog zwischen dem reichen Unternehmer und der Sechzehnjährigen im Kopf hören, wer gerade was sagt. Mit ihren unterschiedlichen Stimmen und Tonfällen. Denn nur wenn man mit den Figuren fühlt, mit ihnen weint, mit ihnen lacht, ihren Schmerz empfindet oder sie genauso hasst, wie die Hauptfigur es tut, ist ein Buch ein gutes Buch!
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